Wednesday, April 11, 2007

Martin Heckmanns 3: "Sexuelle Steigerung ist mit Schmerz verbunden, dafür aber intensiv"



Der am Wiener Burgtheater mit Das wundervolle Zwischending gespielte Autor MARTIN HECKMANNS schildert im dritten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER den Liebeskampf. Für Einführung und wirtschafts- und sprachkritische Teile 1+2 scroll down.


Martin Heckmanns
(photos © Elfi Oberhuber)







Konzentration auf die Liebe - Chance oder Gefahr?

Drei Textauszüge aus
Martin Heckmanns Stück
Das wundervolle Zwischending
,

worin Johann und Anne nach
sieben Beziehungsjahren
einen Film über ihre Liebe drehen,
um sie wieder zu finden ...


intimacy-art: Warum sich Anne und Johann in "Das wundervolle Zwischending" überhaupt auf ihre Liebe konzentrieren wollen, liegt nun nicht an ihrer Einstellung zu Kunst und Öffentlichkeit, sondern eher daran, weil ihre Beziehung es braucht, um zu halten. In der jetzigen Gesellschaft müssen sich dagegen die Leute fast mehr auf ihr Privatleben besinnen, weil sie keinen oder nur einen halben Job bekommen. - Was ist die Gefahr dabei?
HECKMANNS: Die Konzentration kann auch eine Verlockung sein.
intimacy-art: Eher eine Gefahr, da eine Beziehung ja nur aus Projektionen besteht, und wenn man - wie in Ihrem Stück - den anderen damit konfrontiert, dass man ihn eigentlich anders kennengelernt habe als er jetzt sei, kann das ja nur schlecht ausgehen.
HECKMANNS: Zu erforschen, was man tatsächlich für einander ist, birgt auch die Chance, sich "neu" nah zu kommen. Es war in den verschiedenen Inszenierungen des Stücks immer die Frage, ob die beiden ein glückliches oder ein unglückliches Paar bilden. Dadurch, dass sie versuchen, sich neu zu erfinden, gibt es bei ihnen eine große Kraft. Aber auch eine große Härte im Umgang miteinander. Als kraftvolles Paar bemühen sie sich um einander, ringen um Neuheit und Veränderung, ihre Beziehung erledigt sich also noch nicht in der Routine. Die beiden kämpfen noch.

Gratwanderung zwischen sexueller Steigerung und Perversion


intimacy-art: Anne und Johann bewegen sich dabei sexuell noch in einem relativ normalen Rahmen. Johann sagt sogar: "Ich hasse es, dass ich dich begehre, wenn du dich wie eine Nutte stylst." Diesen Satz fand ich toll, weil die meisten Männer gar nicht zu dem Gedanken, sich dafür zu hassen, gelangen, sie stehen einfach zu...
HECKMANNS: ... dem Begehren. Ja. (lacht)
intimacy-art (lacht): Wenn man aber daran arbeitet, dass das Sexualleben interessant bleibt, muss man fast auch den Schritt ins Perverse wagen. Oder sich irgendwelche neuen Dinge überlegen. Die meisten Menschen tun das auch. Liegt darin nun die Gefahr, dass man irgendwann die Schranke, bis zu der es noch erträglich ist, überschreitet?
HECKMANNS: Also im Stück merkt man, glaube ich, dass es in erster Linie um die Steigerung geht. Auch um den Zweifel, wie weit man diese Steigerung betreiben kann. Über diese Schmerzerfahrung entsteht eine Intensität. Wo man da nun Vorsichtsmaßnahmen einbauen muß, habe ich mir aber noch gar nicht überlegt. Ich habe erst mal nur versucht, ein Paar zu beschreiben, das darum ringt, sich nach sieben Jahren noch einmal neu und intensiv zu erfahren.
intimacy-art: Warum sie das schaffen, liegt am Buffer des Films, den sie über ihre eigene Liebesgeschichte drehen. Das ist ein Respekts-Buffer.
HECKMANNS: Ich denke, das gibt ihnen die Möglichkeit, sich von sich selbst zu distanzieren. Sie können sich verstellen und immer auch sagen: Es ist für unseren Film. Das führt auch für den Betrachter zu der Frage, welche Szene eine gefilmte und welche aus dem echten Leben ist. Dadurch öffnet die Beziehung sich für Spielmöglichkeiten. Sodass man nicht weiß, ob dieses SM-Spiel nun eines ist, das getestet wird, weil man es eventuell als Szene benutzen kann oder ob es einem tiefen Bedürfnis der beiden entspringt. In der Inszenierung in Wien wirkt es ja eher wie Anfänger-SM.

Vom gegenseitigen Geschichten-Erzählen zweier Liebender

intimacy-art: Der Film steht aber nicht nur für die Reflexion zweier Liebender, sondern auch dafür, dass die Menschen Filme in Partnerschaften nachleben. Was man von den Medien aufnimmt, lebt man im eigenen Privatleben nach, wobei man gar nicht weiß, ob man das selbst will. Noch weiter geführt, gilt diese Filmszene auch für die Mode der Talkshow-Mentalität, wo sich Leute im Fernsehen für den Partner und die Außenwelt inszenieren. - Halten Sie das für gesund, oder gibt es gerade da Probleme mit der Echtheit?
HECKMANNS: Gesundheit ist immer ein problematisches Argument. Es läßt sich nicht verhindern, dass man über sich selbst als Inszenierten nachdenkt. Im Grunde war es immer schon in der Literatur durch Leseerfahrung so, dass man sich selbst auch als Erzählung versteht. Und darum geht es im Stück: Wie erzählen wir uns? Sind wir ein Experimentalfilm oder ein Musical? Welche Liebesgeschichte sind wir? Und wie finden wir unser Ende? Da würde ich erst mal nicht an "ungesund" denken, sondern als gegeben akzeptieren, dass man sich in der Liebe immer auch gegenseitig eine Geschichte erzählt und fragt: Welche Figur bin ich in dieser Geschichte?


In Teil 4 demnächst auf dieser Site: Wie sich nicht nur der Gesichtsausdruck Martin Heckmanns ein viertes Mal komplett ändert, sondern auch seine Stimmung im
morbiden Text Das Offene Fenster oder Von der Abwesenheit

(Interview-Auszug vom 20.1.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Wednesday, April 04, 2007

Martin Heckmanns 2: "Wie wär´s mit einem Subventionsmodell für widerspenstige Künstler?"











Der derzeit am Wiener Burgtheater mit Da
s wundervolle Zwischending gespielte Autor MARTIN HECKMANNS im zweiten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER. Für Einführung und Teil1 scroll down.

Martin Heckmanns
(photos © Elfi Oberhuber
)



Nach dem Medienkonsum-Wahnsinn kommt die Suc
he nach dem Eigenen

Zwei Textauszüge aus Martin Heckmanns
Stück Schieß doch, Kaufhaus!,
worin Kli
ng, Ätz und Knax
in Sachen globaler Markenware
nicht ganz einer Meinung sin
d ...

intimacy-art: Ist unsere Welt so, dass die Anforderungen seitens Industrie immer konkreter und gezielter werden, sodass sich die Menschen mehr auf sich selbst besinnen, um das zu finden, was tatsächlich "eigen" ist? Dass sie dafür den "echten Ausdruck" suchen und darauf kommen, dass das Echte nicht zu benennen ist, sondern nur ein Gefühl hinter allem Gesagten ist?
HECKMANNS: Die damit einher gehende Ironie ist wahrscheinlich weniger eine Haltung als ein Effekt erhöhten Medienkonsums. Dass man sich fragt, was die eigene Sprache sein könnte, welche Situationen wie vorgeprägt sind. Und man sich selbst nicht mehr traut. Denn darum geht es in Liebesbeziehungen wie im Stück Das wundervolle Zwischending: Momente zu finden, die noch nicht verbraucht sind, damit ein Paar noch eine eigene Form der Intimität herstellen kann.
intimacy-art: Verändert sich auch die Art zu leben, wenn man so eine "intime" Sprache pflegt? Oder bleibt das Leben in Ablauf und Qualität so routiniert banal, wie wir es alle kennen?
HECKMANNS:
Dass sich zum Beispiel
diese beiden Figuren im Stück isolieren, hat damit zu tun. Sie nehmen dieses Projekt, ihre Liebesgeschichte zu verfilmen, so existenziell wichtig, dass sie gar keine Außenkontakte mehr pflegen. Denn das würde ihren Kampf um Nähe relativieren. Das ist gleichzeitig die Gefahr. Man sollte es schon noch schaffen, zum Beispiel mit Medienvertretern zu sprechen.
intimacy-art:
Ja, die z
wei Figuren, Johann und Anne im Stück, hätten mir wahrscheinlich einen Korb gegeben und nicht mit mir gesprochen.
HECKMANNS: Der Mann vom Amt kann gerade noch mit ihnen reden, es wird aber schon schwierig.


Softskill-Terror - Wenn Privates an die Öffentlichkeit verkauft werden muß

intimacy-art: Der Mann vom Amt möchte die beiden auch dazu überreden, "ihre Intimität" an die Öffentlichkeit zu "verkaufen". Das hat doch mit Ihrer generellen Gesellschaftskritik der "Softskills" zu tun, wodurch sich die "unbrauchbaren" Menschen, sprich die Kreativdenkenden, die Geisteswissenschaftler, lediglich in Wirtschaft und Gesellschaft vermarkten lassen. Nicht?
HECKMANNS: Ich beschreibe das zuerst einmal: Kommunikationsfähigkeiten, die man alltäglich oder in der Liebesbeziehung verwendet, kann man gleichzeitig als Softskills verkaufen. Dadurch fängt man an, diesen Kommunikationsfähigkeiten zu mißtrauen. Das Paar geht im Stück also gegen sich vor, weil es diese Qualitäten als Verkaufsqualitäten an-sich nicht schätzt und trotzdem merkt, dass der andere auch auf einen schaut, wie auf jemanden, der sich gerade anbietet.
intimacy-art: Soll das nun aber sein, dass die Künstler gefördert werden, und wenn ja, sollen sie ihre intimsten, provokantesten Ideen ausdrücken können, oder nicht?
HECKMANNS:
Ich halte es für die perfidere Herrschaftsstrategie, Freiraum zu geben und sich Künstler zu halten
wie in einem Kindergarten und deren Verausgabung zu konsumieren.
intimacy-art
: Sie meinen also: Jeder Künstler braucht seine Schranken, einen Widerstand?
HECKMANNS: Es gibt eine Richtung vor, wenn man weiß, gegen welche Grenzen man zu agieren hat.


Auf dass die Anarchie gesellschaftsfähig wird

Zwei Textauszüge aus Martin Heckmanns
Stück Das wundervolle Zwischending,
worin das Künstlerpaar Anne und Johann
mit dem Gegenspieler (Mann vom Amt)
um
Privatheit und Echtheit seiner Liebe
mittels Film ringt
und das nicht als Kunst "verkaufen" will ...

intimacy-art: Könnte nicht eine Humanitätsvision sein, dass solche alternativen Leute zu einer Gegenbewegung zur dominanten Wirtschaft führen, in der immer weniger Manager immer mehr verdienen und das Arm-Reich-Gefälle ständig wächst? Dass also etwa die immer öfter zu den Arbeitslosen gehörenden, sprach- und denkfähigen Akademiker innerhalb dieser Szene etwas auf die Beine stellen und damit aus sich heraus einen Ausgleich schaffen, ohne sich direkt an diese Wirtschaft anzubinden? Könnte so die Anarchie gesellschaftsfähig werden?
HECKMANNS:
"Die A
narchie wird gesellschaftsfähig.“ Schönes Paradoxon. Hoffen wir das, ja. (lacht)
intimacy-art (lacht):
Sehen Sie denn die Integration der freien
Künste ins Wirtschaftsleben als positiv an?
HECKMANNS (schüttelt den Kopf)
intimacy-art: Nein?
HECKMANNS: Das Problem ist im Stück thematisiert: Will man sich verkaufen oder will man die Eigenheit bewahren? Den beiden Liebenden geht es darum, etwas zu schaffen, was einerseits eigen ist, andererseits auch noch von außen verstanden wird. - Und da ist das Problem: Sobald jemand sagt, es könne gefördert werden, aber mit anderen Darstellern, ziehen sie ihr Werk zurück. Sie sagen: "Verkaufen wollten wir uns nicht".


Wie wertvolle (trotzige) Künstlerindividuen zu fördern sind

intimacy-art: Sind Sie nun aber dafür, dass sie auf die Förderbedingung eingehen?
HECKMANNS:
Ne
in, dass sie sich ihre Eigenheiten bewahren.
intimacy-art: Sie sollen den Film also nicht verkaufen?
HECKM
ANNS (tr
otzig): Genau. Sie sollen für sich bleiben und dagegen sein.
intimacy-art:
Und von der Sozialhilfe leben.

HECKMANNS: Ja.
intimacy-art:
O.k., n
a gut. Dann müßte man ein Subventionsmodell finden ...
HECKMANNS:
... für widerspenstige K
ünstler.
intimacy-art:
Ja. Und dass man es anders nenn
t als "Sozial- oder AMS-Hilfe", damit es nicht so traurig klingt. - Andererseits: Will nicht jeder seine authentische Kunst herzeigen? Sie wollen doch auch Ihre Sachen zeigen.
HECKMANNS: Ja, aber sie werden entwertet, sobald sie bezahlt werden.


Lesen Sie in Teil 3 demnächst auf dieser Site: Worin die Gefahr liegt, wenn ein Paar nach sieben Jahren Beisammensein die frühere Intensität ihrer Liebe wieder erwecken will. Mit wirklich intimen und scharfen Textauszügen aus Das wundervolle Zwischending ...

(Interview-Auszug vom 20.1.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Tuesday, February 27, 2007

Martin Heckmanns 1: "Es blendet zu viel aus, wenn man weiß, wie "es" geht"


Martin Heckmanns (photos © Elfi Oberhuber)


MARTIN HECKMANNS - einer der angesagtesten Autoren des deutschsprachigen Raums - ist mit Das wundervolle Zwischending gerade am Wiener Burgtheater im Vestibül zu sehen, worin ein Künstlerpaar in einer sprachvoll-sprachlosen Welt der Arbeitslosen und Beziehungsprobleme um Liebe und Kunst ringt. Nach der Lesung zweier Monologe in Wien beschreibt der Sprachvirtuose ELFI OBERHUBER "sein" Dilemma genauer: Echte Kunst schöpft aus der Intimität. Doch kaum wird sie veröffentlicht, hat sie sie auch schon verloren - zumindest für den schaffenden Künstler.

Kurzprofil MARTIN HECKMANNS (geb. 19.10.1971 in Mönchengladbach/Deutschland, Sternbild Waage) wird als "begabter, etwas einsamer Linguist unter den jüngeren Dramatikern" gehandelt. So schnell Martin Heckmanns seine eigenen Texte liest, so langsam genießt sie der Leser, so mannigfaltig kann sie der Schauspieler aufladen. Mit dem Schreiben begann Heckmanns 1998: den Monolog Finnisch oder Ich möchte dich vielleicht berühren für seinen Schauspieler-Freund Christian Banzhaf. Seitdem hat Heckmanns Aufenthaltsstipendien und für beinahe jedes Stück Preise erhalten. Disco (UA 2001) ist eine Aufreißer-Analyse über drei Burschen. Schieß doch, Kaufhaus! - mit dem Heckmanns Theater-heute Dramatiker 2002 wurde - enthält Globalisierungskritik, Kränk familiären Generationskonflikt, und Die Liebe zur Leere eine Don-Juan-Persiflage. Alle drei Uraufführungen inszenierte 2002 /04 /06 Simone Blattner am Staatsschauspiel Dresden / Thalia Theater Hamburg bzw. am schauspiel-frankfurt. In Anrufung des Herrn (UA 04) spielt Heckmanns´ Sprache mit der Todesangst und in Das wundervolle Zwischending (UA 05) mit Liebe und Kunst. Kürzlich inszenierte Intendant Hasko Weber, dessen Staatstheater Stuttgart zum Theater des Jahres 2006 gekürt wurde, im Haupthaus die Uraufführung von Wörter und Körper, ein Stück über eine suchende Enddreißigerin, die die Suche findet. Dem wurde im Sinne von Verlust der eigenständige Monolog Das offene Fenster oder Von der Abwesenheit - ein Gedenken an einen befreundeten Selbstmörder - voran gestellt. Und die jüngste Uraufführung erfolgte am 24.3.07 mit Kommt ein Mann zur Welt am Düsseldorfer Schauspielhaus, worin "Bruno" als Künstlersohn auch zum Künstler wird und auch nur ein Mensch ist... Heckmanns Texte werden vom Suhrkamp Theaterverlag in Frankfurt heraus gegeben.

- Wie Martin Heckmanns im Vergleich zu anderen Autoren einzuordnen ist, erfährt man über intimacy: art (www.intimacy-art.com) in aKtuell / REALNEWS / WATCHER (bzw. TIPPS) / Archives: February 2007. Titel: JUGEND IM INTELLEKTUELLENFIEBER - NEUE AUTOREN SUCHEN ECHTHEIT UND NÄHE: VON MARTIN HECKMANNS BIS MICHAL WALCZAK - Scroll down!

- Die Burgtheater-Kritik zu Das wundervolle Zwischending ist auf intimacy: art (www.intimacy-art.com) in aKtuell / REALNEWS / CRITIC / Archives: January 2007 nachzulesen. Titel: THEATER: RUDOLF FREY UND MARTIN HECKMANNS KONGENIAL - IN "DAS WUNDERVOLLE ZWISCHENDING"
- Scroll down!
Aufführungen: Das wundervolle Zwischending * Von: Martin Heckmanns * Regie: Rudolf Frey * Mit: Stefanie Dvorak, Johannes Krisch, Roland Kenda * Ort: Burgtheater im Vestibül, Wien * Zeit: 15.2.2008: 20h


Unsicherheit als erwartete Leistung

Textauszüge (unten) aus Martin Heckmanns´ Monolog
Finnisch oder Ich möchte dich vielleicht berühren
,
über einen romantisch-sensiblen Nichtdraufgänger,
der sich selbst ein Paket schickt und das ganze Stück über
philosophierend probt, wie er der Postbotin näher kommen könnte


intimacy-art: Ich habe Sie gerade fotografiert und damit in das Gefühl, veröffentlicht zu werden, versetzt. Als Schreibender sind Sie dagegen immer introvertiert. Speziell Sie sind wahrscheinlich sogar dazu fähig, sich in Depressionen einzufühlen.
MARTIN HECKMANNS: Die Person, die man in der Öffentlichkeit zu sein hat, mit der Schreibperson in Einklang zu bringen, ist tatsächlich schwierig. Im Schreiben fühle ich mich wohler. Und sicher weiß ich nicht, ob das Geschriebene meinen Kommentar noch braucht.
intimacy-art: Genau darum geht es in Ihren Werken, aber auch um Echtheit und Wahrheit. So hätte ich zu diesem Interview vielleicht unvorbereitet kommen sollen, um den Lesern diesen Wahrheitszustand einer ersten Begegnung zu vermitteln. Denn mit Konzept dominiert der Leistungsanspruch, die gezielte Verkaufsmöglichkeit dieses Gesprächs und Ihrer Person.
HECKMANNS: Es wäre auf jeden Fall eine unbeschwertere Begegnung gewesen. Jetzt sprechen wir auch mit imaginierten Lesern. Und wissen nie genau, mit wem wir sprechen. Das gilt auch für das Schreiben für die Bühne: Sitze ich dann in der Vorstellung und sehe ich die realen Zuschauer, ist die Anspannung enorm hoch. Wäre diese Anspannung beim Schreiben immer präsent, könnte ich keinen Satz beenden. Die Erwartungen sind unüberschaubar.
intimacy-art: Gesteigert wird das in Ihrem Fall noch dadurch, da Sie absolute Intimität einfordern und treffen. Insofern sollten die Erwartungen des Publikums dem aber wieder entsprechen.
HECKMANNS: Echte Innigkeit erreicht man nur im Zweiergespräch. Wenn die zwei Personen auf der Bühne miteinander ringen, hat man als Autor ausschließlich für jene beiden den Moment der Nähe erzeugt.

Unsicherheit als Lebenslage

intimacy-art: Gleichzeitig muß man sagen, dass sich die Protagonisten in Ihren Stücken immer in einem unsicheren Schwebezustand befinden. Sowohl privat, als auch öffentlich (beruflich). Geht es Ihnen so?
HECKMANNS: Ich schätze dieses Gefühl eigentlich. Unsicherheit hat mit Sensibilität gegenüber der jeweiligen Situation zu tun, die man nicht "beherrscht". Das ist für das Schreiben eine gute Voraussetzung. Indem man versucht, sich zu orientieren, zuvor aber die Unübersichtlichkeit der Situation akzeptiert.
intimacy-art: Hatten Sie schon eigene Sorgen, die Sie so treffend an- und aussprechen?
HECKMANNS: Die Situation von meinem ersten Monolog Finnisch oder Ich möchte dich vielleicht berühren kennt jeder, glaube ich: Dass man nicht weiß, wie eine Kontaktaufnahme mit einem begehrten Menschen glücken soll, wie ein Anfang funktionieren könnte, was man überhaupt von einer Begegnung erwarten darf.
intimacy-art: Obwohl Sie optisch nicht gerade häßlich und unscheinbar sind. Man stellt sich bei solcher Schüchternheit einen ganz anderen Typen vor.
HECKMANNS: In jeder Begegnung liegt eine Gefahr. Wer sich öffnet, kann getroffen werden. Das Risiko muss man eingehen, um berührt zu werden. Die Unsicherheit ist in meinem Fall schwächer geworden, aber noch immer da. Und wie gesagt, ich versuche sie auch zu schützen.
intimacy-art: Als wünschenswertes Lebensgefühl oder weil Sie davon leben, darüber zu schreiben?
HECKMANNS: Es blendet so viele Einzelheiten und Nuancen aus, wenn man weiß, wie "es" geht.
intimacy-art: Hatten Sie auch über längere Zeit existenzielle Sorgen wie das Künstlerpaar in "Das wundervolle Zwischending"?
HECKMANNS: Wenn man sich für das Schreiben entscheidet, hört die Sorge nicht auf, wie lange es zu konservieren ist, sei es die eigene Schreiblust oder dass sich das Geschriebene verkauft, wie Medien darauf reagieren. Das hält neugierig.

Unsicherheit als Muse

intimacy-art: Interessanterweise entspricht Ihr Schreibstil genau dieser aktuellen Haltlosigkeit. Er wird in Form von Zwischentönen der Wortgebilde, in seiner Wirkung als Metasprache, zur eigentlichen Aussage der Stücke. Sie schreiben über emotionale Bilder und weniger über konkrete Handlungen, was das Dichterische an Ihnen ausmacht. Selbst wenn es noch abstraktere Schreiber gibt, steht diese Form für die Sprachlosigkeit in der Liebe und im Wirtschaftsleben schlechthin. Wann fanden Sie sie?
HECKMANNS: Ich habe mir vorher keine Strategien des Stils überlegt. Der erste Monolog Finnisch oder Ich möchte dich vielleicht berühren entstand direkt aus einer Situation der Sprach- und Hilflosigkeit in der Begegnung heraus. Er hatte in bestimmter Weise bei mir auch therapeutische Funktion. Als ich ihn von einem Schauspieler auf der Bühne vorgeführt bekam, hat sich das Problem gelockert. Die Komik ist mir erst bei der Bühnenfigur so deutlich aufgefallen.
intimacy-art: Glauben Sie, dass es diese Sprachlosigkeit früher auch schon gegeben hat, oder dass man sie früher nur nicht an- bzw. ausgesprochen hat?
HECKMANNS: Es geht nicht um Sprachlosigkeit, als vielmehr um das Ringen um den richtigen Ausdruck. Die Figuren reden ja ständig, sie bemühen sich darum und stellen dann den Satz infrage, den sie gerade geäußert haben. Es herrscht eine ständige Reflexionsbewegung. Dadurch kommt man kaum zum richtigen Satz, weil man ihn ständig wieder relativiert. Das halte ich für das eigentlich Interessante. Dass wenig sicher ist im Gespräch, aber trotzdem kommuniziert wird: in Versuchen.

Lesen Sie in Teil 2 schon bald auf dieser Site: Wie aus den Sprech-Versuchen das "Echte" und "Eigene" wird und warum es einem Künstler so schwer fällt, das zu verkaufen.

Und: in den Textauszügen aus Das wundervolle Zwischending und Schieß doch, Kaufhaus! werden Sie sehen, wie aus dem frauenbezogen unerfahrenen "Heckmanns" ein reifer Liebhaber und
Wirtschaftskritiker wird.
(Interview-Auszug vom 20.01.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Saturday, January 06, 2007

"Der homosexuelle Lord Byron war naheliegenderweise einer der ersten Vampir-Literaten." Neville Tranter 3



Puppenspieler NEVILLE TRANTER im dritten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER. Für Einführung (Teile 1, 2) scroll down.

Foto: Neville Tranter (© Elfi Oberhuber)



Der Koitus - die für das ganze Leben stehende kleine Welt zwischen Schwäche und Stärke


intimacy-art: Ich sehe diesen Moment, wo der starke Olav sein schwaches Opfer beißt, als Parallele zum sexuellen Eindringen: Fühlt sich ein Mann, ­ wie in dem Moment die ausgelieferte Frau, ­ jemals schwach?
TRANTER: Hmm...
intimacy-art: Dieses Gefühl kann sich gleich danach ändern, aber in dem Moment... Muß das so sein, bei Mann und Frau? ­ Abgesehen von Homosexuellen, wo das wahrscheinlich genauso abläuft - von der Natur her muß der Schwäche-Stärke-Kontrast in der Evolution wohl so angelegt sein.
TRANTER: (lange Pause...), ... ich muß gerade an die Zeit von Auschwitz denken, als die Leute in den Barracken ganz schwach waren. Über den Sex jener Gefangenen wurde kaum geschrieben. Aber ich glaube, dass er ganz heftig war.
intimacy-art: Ach so?
TRANTER: Für das Gefühl des Überlebens.
intimacy-art: Die Opfer untereinander? Um sich Kraft zu geben?
TRANTER: Ja, gerade in dieser extremen Leben- und Todsituation. Ich glaube echt an dieses Gefühl von Überleben oder Sterben. Im Vergleich dazu versteht man das Grundthema "Väter" des Stückes umso besser, wo es darum geht, Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen. In der Durchlässigkeit, indem alles weiter- und durchgeht, darf der Einzelne nicht nur ans eigene Überleben denken, sondern muß innerhalb des Überlebens auch Verantwortung für die Menschheit tragen. Um diese Kraft geht es.
intimacy-art: Wahrscheinlich ist das beim Vampir-Phänomen der Hauptgedanke, denn die Erotik wurde auch in der Literatur erst spät eingeschmuggelt. Im Mittelalter, ­ der Zeit der TBC-Schwindsüchtigen sowie der Pest-Epidemien, als den Pesttoten im Grab unerklärlicherweise Nägel wuchsen, ­ waren die Vampire asexuelle Halbtote. Ihr Fledermaus-Aussehen bekamen sie, weil jene beim Beißen Krankheiten verschleppen. Während der Hochblüte des Dandytums, mit der Schönheit der Aristokratie, der Blässe, der Homosexualität, kam dann die versteckte, ­ da verbotene, ­ Erotik hinzu. Doch schon der homosexuelle Dichter Lord Byron, einer der ersten Vampir-Literaten, hatte zum Liebhaber einen Arzt ...

Vampirismus - seine "Homosexuellen-Ästhetik" kommt nicht von ungefähr

TRANTER: Im Stück ist der Satz, kurz bevor Olav Inger beißt, von Byron: "Ich atme, aber nicht den Atem menschlichen Lebens." - Das alles kann ich gut verstehen, denn ich bin mit einem Mann verheiratet - in den Niederlanden ist das ja schon erlaubt. Er ist Krankenpfleger einer Krebsabteilung...
intimacy-art: Da schwingt der Tod in Ihrem echten Leben also tatsächlich ständig mit.
TRANTER: Wie bei meinen Puppen. Eine Puppe kann auf der Bühne echt sterben, was ein Schauspieler nie kann. Den Tod zu behandeln, bedeutet aber überhaupt "Theater".
intimacy-art: Ihnen starb bei den Proben auch Ihre geliebte Hündin Daisy, und "Vampyre" endet mit dem Hund Odin.
TRANTER: Ich wollte dem Publikum am Schluß zeigen, nach wem Torvald die ganze Zeit her war, als er rief: "Odin, Odin, Odin!" Inger redet auch immer von "Odin". Kierkegaard ruft: "Odin!" ... Über dieses Bild vom Hund im Wald, den Hunden, die auf den Bäumen hängen - also den Vampiren -, und Olavs Sager, "ein Hund kommt immer an den Ort zurück, den er am meisten liebte", bildet der Hund den Kreis zur unendlichen Menschheit.
intimacy-art: Der Hund ist aber auch gebissen worden, oder? Er wird also zum echten "Vampir-Hund".
TRANTER: Ja, und geht mit Gabriel weg. Odin ist Teil der Götterwelt geworden ...

(Interview-Auszug vom 2.5.2006, voll Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Monday, January 01, 2007

"Vampir-Lust steht für die tierische Seite menschlichen Überlebens", Neville Tranter 2



Puppenspieler NEVILLE TRANTER im zweiten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER. Für Einführung (Teil 1) scroll down.

Foto: Neville Tranter (© Elfi Oberhuber)


Vampirismus als Metapher für Erotik

intimacy-art: Für Liebe und Erotik scheint der Vampirismus im Taumel zwischen Leben und Tod die Metapher schlechthin zu sein. Besonders im Sex-Akt, und noch intensiver beim ersten Mal. Für den Jüngling/die Jungfrau ist das ein halb-freiwilliger und halb-gewalttätiger Moment wie meist beim Opfer, bevor es gebissen wird. Irgendwie will er/sie es, andererseits ist da die Angst. Was gibt es zu verlieren, was zu gewinnen?
TRANTER: Im Stück sieht man es am Charakter von Romero, der als naiver Junge erst Sex haben muß, und von Inger, die von Olav vergewaltigt wird. Inger verändert sich entsprechend: Wenn dir so etwas Schlimmes passiert, mußt du das mit deinem eigenen Charakter meistern, so wie du im Leben stehst. Wenn du feststellst, "oh das ist mir jetzt passiert", mußt du dich dem Punkt stellen: "Möchte ich jetzt untergehen oder doch weiter machen?" Also: Inger wird auch zum Vampir.
intimacy-art: Kann sich Inger wegen Olavs Gewalt umso bewußter für Romero entscheiden, der das absolut Gute verkörpert?
TRANTER: Sie ist dadurch sicher sehr viel weiser geworden. Durch diese Erfahrung, die Romero noch nicht gemacht hat. Sie muß daher jetzt die Leitung übernehmen, was sie aber beim Vater Torvald ohnehin immer schon gemacht hat.
intimacy-art: Passierte die Vergewaltigung Romero, wäre es schlimmer...
TRANTER: Inger kann die Dinge sicher viel besser relativieren. Das ist der Punkt. Auch die Gewalt seitens Olav. Sie ist ungemein nüchtern und stark.
intimacy-art: Sehen Sie das als generell weibliche Stärke?
TRANTER: Relativieren können auch Männer. Sieht man alles nur schwarz, gibt es kein Rätsel mehr, um weiter zu leben.
intimacy-art: Mit dem Verlust der Unschuld, ist speziell ein Mädchen körperlich "gezeichnet". - Könnte das dafür stehen, dass wir Menschen im Laufe des Lebens irgendwann "schuldig" werden müssen, um erwachsen und kräftig zu werden?

Im Grunde ist jeder Mensch allein

TRANTER: Gute Frage. Es heißt: man muß lernen, um zu leben. Im Leben muß man viele schlechte, falsche, schlimme Sachen machen. Das geht, glaube ich, gar nicht anders. Kein Mensch ist perfekt. Und jeder hat einen anderen Weg zu gehen. Du wirst allein geboren und stirbst alleine. Das heißt, du mußt deinen eigenen Weg finden. Und deshalb ist es in diesem Stück so schön, dass jeder Charakter total anders ist. Das sind sechs total verschiedene Menschen. Sie sind im Grunde alle allein. Und trotzdem sind sie bei einander. Das steht symbolisch für die ganze Menschheit. Wir sind alle zusammen und doch allein.
intimacy-art: Wir müssen auch zusammen sein, weil wir auf andere angewiesen sind. ­ Und im Sex erst recht: Nun fand ich im Gedicht "Le vampir" der Dichterin "levampyre" die Zeilen: "Verzweifelt leckst du deine Wunden, doch gabst du dich mir freiwillig hin. Es schneidet mir ins Herz, doch genieße ich deine Angst; Genieße es, dich ängstlich zu machen, denn nur so fühle ich das Leben ­ durch einen kalten Kuß." - Wir sehen hier ­ sehr erotisch ­ die Macht des Mannes, der alles entscheidet und seine Macht genießt. Ist der Vampirismus eine Parallele zur Erotik?
TRANTER: Es hat einen Doppelsinn: Diese erotische Seite, und jene, dass der Vampir, um weiter zu leben, Blut braucht. Darin zeigt sich die ganze tierische Seite des Überlebens.
intimacy-art: Und die Lust?
TRANTER: Genau in dieser Lust liegt der Doppelsinn.
intimacy-art: Glauben Sie, dass sich der Vampir, der Täter, irgendwo auch schwach fühlt?
TRANTER: Im Moment der Tat sicher nicht. Da existiert er gar nicht mehr, sondern nur durch die Tat selbst. Denkt er später darüber nach, ist er vielleicht schwach. Olav sagt es auch, als er seine grandiose General-Vergangenheit mit dem Jetzt vergleicht. Dagegen müsse er sich eigentlich mit diesem kranken Mädel schämen, und dennoch, das Blut... er ist süchtig danach.

Lesen Sie in Teil 3, demnächst auf dieser Site: Macht und Ohnmacht von Vampir und Opfer und von der Verantwortung von "Vätern"

(Interview-Auszug vom 2.5.2006, voll Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Saturday, December 16, 2006

"Der Vampir erzählt uns von Macht, Sucht und Verantwortung", Neville Tranter 1


Foto: Neville Tranter (© Elfi Oberhuber)

Figurentheater in aller Munde: ob bei Roman Paska mit Beethoven in Camera ab 19.1.07 im Schauspielhaus Wien, beim Kabinetttheater im anderen Konzert im Wiener Konzerthaus am 18.2. oder mit Gute Götter - so ein Theater! im Keller "Hölle" des Theaters an der Wien ab 20.3., oder bei Ronnie Burketts 10 Days on Earth ab 25.5. im Rahmen der Wiener Festwochen im Schauspielhaus. - Da diese Dramatikform mit Puppen arbeitet - tot und doch so lebendig - handelt sie immer auch von der Urfrage "Leben und Tod", von der Durchlässigkeit, dem Vergehen und Verfall, dem Fortgang der Menschheit und damit von der Verantwortung des Einzelnen dafür. Am besten hat dies bisher Australier NEVILLE TRANTER vermittelt, denn neben Bewegungstheater und abstrakter Verfremdung haben seine Stücke auch theatrale Kraft. Derzeit tourt er mit Vampyre durch ganz Europa, dessen Premiere er in Wien feierte. Das Gespräch über das Vampir-Phänomen mit ELFI OBERHUBER steht exemplarisch für das Grundwesen aller Erwachsenen-Puppenkunst, das somit zutiefst ethisch und politisch ist.

Kurzprofil NEVILLE TRANTER (geb. am 5.9.1955 in Queensland/Australien, Sternbild Jungfrau) Der gefürchtetste Theaterkritiker der Niederlande, wo Neville Tranter lebt, bezeichnete Schicklgruber alias Adolf Hitler als "schönstes Stück seines Lebens": Spätestens also, seit Tranter Hitler, Göring und Himmler samt familiärem Anhang in grotesk-makabre Puppenkörper steckte und sie im Bunker des Führers letzten Geburtstag feiern ließ, der alsdann im Selbstmord gipfelte (Video-Ausschnitt über: www.stuffedpuppet.nl/movie.html), ist ein Stück des in Amstelveen lebenden Australiers kein Geheimtipp mehr. Hinter der rhythmischen Virtuosität in romantischem Horrorszenario (Tranter: "Die Magie wird umso stärker, je brutaler du auf der Bühne wirst.") steckt die Detailakribie eines "wahnsinnigen" Perfektionisten. Das fängt in der Farbe des Gaumens der Puppen an, geht über die mit Literaturzitaten bespickte, komplexe Geschichte, bis zum British-Actor-English des Schauspielers Tranter, dem einzigen Menschen auf der Bühne unter den vielen Menschenpuppen - die er alle selbst baut, spricht und spielt. Er gilt als Pionier seines Fachs, indem er mit seinem Stuffed Puppet Theatre seit 1976 "echte Theaterstücke mit Puppen für Erwachsene" entwickelte, mit der illusionären Kraft, als würden jene leben. Im philosophischen Horror-Märchen Vampyre leben sie sogar noch, wenn sie "tot" sind ...

Foto: Neville Tranter und der Vampir-General Count Olav (© Elfi Oberhuber)

Vampir - Archetyp für Leben und Tod


intimacy-art: Das Vampir-Phänomen dreht sich mythologisch und psychologisch um die Bedeutung von Leben und Tod für den Menschen. Wie und warum zeigen Sie das inVampyre?
NEVILLE TRANTER: Die drei Welten ­ Leben, Tod, Scheintod ­ sind nötig, um mit den Schicksalen mitfühlen zu können. Mischwesen gab es schon in der griechischen Klassik, indem Menschen die Kräfte von Göttern hatten. Die helle Welt der Halbgötter repräsentiere ich in Vampyre mit mir in der Rolle des Gabriel. Auf dem Camping-Platz leben die normalen "Menschen" und die Vampire - eine Art "dunkler Halbgötter". Und alles dreht sich um die Hauptfigur Romero, einen jungen Vampir und menschlichen Knaben zugleich.
intimacy-art: Metaphorisch geht es um das physische und moralische Gefühl, tot oder lebendig zu sein: in Leben und Tod.
TRANTER: Dieser Doppelsinn geht schon von der Puppe selbst aus. Sie lebt erst, wenn ich ihr Leben einhauche. Sobald sie von meinen Händen gleitet, ist sie tot. Deshalb funktioniert Torvalds Selbstironie so schön, als er auf Kierkegaard trifft ­ und beide sind Puppen: "Oh, Gott sei dank, ein Mensch!" Darauf Kierkegaard: "Wirklich? Wo?"
intimacy-art: Leben und Tod liegt auch in den Widersprüchen böse-gut, schwach-stark. Der Starke fühlt sich lebendiger. Interessant ist nun, dass ausgerechnet der mehr im Reich der Toten befindliche, starke Count Olav, also der echte Vampir ­ - obwohl als lebender Toter eigentlich "ungesund" ­ - so wunderschön ist.
TRANTER: Ja, Vampire sind kräftig, schön und tot. Sie riechen auch tot. Und der Archetypus des Vampirs kann ganz lang leben.
intimacy-art: Was ihn so mächtig macht.
TRANTER: Ja, denn das Leben des Menschen ist kurz. Die Vampire aber leben lang. Das steht dafür, dass der Vampir in seinem Leben ganz viel mitgemacht hat. Selbst Romero ist eigentlich schon alt, obwohl er noch ein junger Vampir ist. Der Vampir ist also ein Symbol für die Zeit, die Zeit eines Menschen auf der Erde. Und das ist für mich das große Thema in diesem Stück, indem alles durchlaufen wird. So sagt Kierkegaard am Anfang, "Unendlichkeit ist der Zustand des Lebens", und schließt daraus, dass Leben und Tod folglich dasselbe sein müssen. Deshalb sei es nicht wichtig, ob etwas lebe oder tot sei.
intimacy-art: Ähnliches gibt es auch in der Psychologie: "Humor ist der Ausgleich in der Unendlichkeit", gerade weil das Leben schnell endet, soll man jeden Moment genießen.
TRANTER: Da betrachtet man es punktuell, aber in Vampyre steht es dank der Puppen für die Unendlichkeit der Menschheit in ihrem Verlauf: Indem das eine geht, das andere kommt, der eine Mensch stirbt, der nächste folgt. Der Zuschauer findet hier wie im Märchen etwas Symbolisches für die ganze Menschheit.

Wenn Macht in Ohnmacht kippt

intimacy-art: Da beim Vampir all diese Kontroversen so nah bei einander liegen und einander bedingen ­ - krank-stark, schön-häßlich ­ - wissen Sie immer, was gut oder schlecht, richtig oder falsch ist?
TRANTER: Nein. Du glaubst immer zu wissen, was gut ist. In einer total anderen Situation ist es aber gerade das Falsche. Zum Beispiel im Stück: Ingers Vater, Torvald, rennt im Wald andauernd hinter seinem Hund her, anstatt bei seiner Tochter zu bleiben; selbst wenn er seine Tochter liebt.
intimacy-art: Das ist seine Ausrede, um sich nicht wirklich kümmern zu müssen. Er rennt dem Hund nach, da es einfacher ist, etwas Konkretes zu suchen - was aber im Grunde auch nicht konkret ist.
TRANTER: Genau. Und so ist Torvalds ganzes Leben. Bis zum Schluß, wo er verärgert sagt: "Dieser Wald ist ein Alptraum, man läuft immer im Kreis, ohne Garantie, überhaupt einmal raus zu kommen." Das steht philosophisch für seinen Lebensstandpunkt.
intimacy-art: Das hat etwas Beckett-sches: Man wartet im Leben auf etwas, aber weiß nicht, auf was.
TRANTER: Ja, auch die Figur des Torvald wird dadurch zum Archetypus, der uns etwas vom Wesen der Menschheit erzählt.
intimacy-art: Ihre Archetypen sind aber auch Stereotype. Romero ist als Sohn zum Beispiel zu schüchtern und naiv, sein Vater, Graf Olav, ist zu egoisitisch und stolz. Hier zeigt sich das Spiel zwischen Macht und Ohnmacht schlechthin. Geht es im Leben letztenendes darum, Macht zu haben?
TRANTER: Ja. Ich glaube aber auch, du kannst den ganzen Tag das Gefühl haben, Macht zu haben, und plötzlich ändert sich das. Das ist das ewige Spiel von Macht und Ohnmacht. Mit einem Mal bist du machtlos. Durch eine Tür, einen Menschen, das Wetter, einen Hund, du kannst unters Auto kommen, ...
intimacy-art: Nicht zu steuern, bis zum gewissen Grad aber doch.
TRANTER: Du kannst es versuchen.
intimacy-art: Es gilt zumindest, die richtige Balance zwischen Macht und Ohnmacht anzustreben. Nur ändert sich das eigene Gefühl dafür dauernd, je nachdem, wieviel Macht man bereits errungen hat. Man setzt den Level ständig höher; und bist du auf einer Stufe, kannst du kaum mehr darunter gehen.
TRANTER: Ein gutes Wort dafür ist Flexibilität. Man muß flexibel bleiben. Im Machtverhalten ist das allerdings sehr schwierig.

Der Mächtige nimmt sich alles ohne Mitleid

intimacy-art: Mit diesem Wort wird Macht auch positiver.
TRANTER: Ich deute Macht verbunden mit Verantwortung auch positiv. Olav hat seinen Höhepunkt aber schon hinter sich. Und was passiert jetzt? Er fühlt sich zu gut im "minderen Wald" und beklagt sich: "Der Wald ist krank! Und ich muß in diesem Wald meine Zeit verbringen!"
intimacy-art: Die Schuld gibt er der Umwelt. - Oft ist sie es auch.
TRANTER: Das kann auch sein, ja.
intimacy-art: Und was treibt den Vater dazu, in der Nacht im Wald herumzustreunen und ein unschuldiges Mädchen zu beißen, wie Inger? Deren Blut eigentlich sein Sohn bräuchte, um erwachsen zu werden?
TRANTER: Olav steht für den Archetypus des Generals. Er glaubt noch immer an den Krieg, wo er der Held war, der immer junge Frauen hatte: "Und ich bleibe das!" Er liebt junge Frauen, aber nicht als Mensch, sondern als Statussymbol, im Wettbewerbsdenken, um jung zu bleiben. Das kommt vom Stolz der Menschheit. ­ Die sieben Todsünden.
intimacy-art: Hat Inger dennoch erotische Gefühle für Olav?
TRANTER: Wir hatten während der Textentwicklung eine Szene, die sehr gut, aber zu schockierend für die Zuschauer war: Sie wollten nicht, dass Inger ihren Vater Torvald als Mann sehen könnte, den sie haben mußte, und der sie dann fragte: "Was machst du da?" - Deshalb wird Olav aber noch lange nicht zu so etwas wie einem erotischen Vaterersatz. Nein, nie. Sie ist wirklich Olavs Opfer. Er vergewaltigt sie. Das hört man auch. Bei seinem "ahahah".
intimacy-art: Aber sie könnte ihn vielleicht später wegen der sexuellen Erfahrung attraktiv finden. Da er ja öfter kommt...
TRANTER: (lacht)
intimacy-art: Nein, sie liebt also den jungen Romero.
TRANTER: Ja.

Lesen Sie in Teil 2, demnächst auf dieser Site: Der Vampirbiß als verlust der Jungfräulichkeit und Beginn der Schuldigkeit des Menschen
(Interview-Auszug vom 2.5.2006, voll Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Tuesday, November 28, 2006

"Im Sex liegt nicht die Wahrheit für kulturelle Identität", Willi Resetarits & Sivan Perwer, Teil 3


photo: Willi Resetarits und Sivan Perwer (© Lukas Beck)

Burgenland-Kroate WILLI RESETARITS und türkischer Kurde SIVAN PERWER im letzten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER: Was heißt Identität im Vergleich zur Kurdenfrage für alle Menschen? Wie wirkt sich das praktisch auf gemeinsames Musizieren aus? Für Einführung (Teil 1,2) scroll down.


Wie wichtig ist echte Nähe im globalen Zeitalter?


intimacy-art: Sucht man - je mehr Menschen aus verschiedenen Kulturen im globalen Zeitalter aufeinander treffen, je unsicherer man dadurch in der Welt verfestigt ist -, umso mehr nach echter Nähe, nach etwas vom eigenen Charakter oder von der eigenen Herkunft im Anderen? Ist das die dilemma-reiche Farce - selbst beim besten Willen an Toleranz - des Globalen?
RESETARITS:
Als Ideal glaube ich, dass man in einer toleranten Welt den
eigenen Standpunkt braucht, um sich selbst zu definieren. Darüber, was wir Identität nennen. Das ist ganz wichtig, auch für den toleranten Standpunkt.
intimacy-art:
Ich denke die Wahrheit liegt im erotischen Gefühl: Vom
Fortpflanzungstrieb her ist es doch so, dass der Instinkt das Gleiche sucht. Da funktioniert die Toleranz nicht. Ich kann mich mit Ihnen sehr gut unterhalten, aber ob ich bei Ihnen ein erotisches Gefühl hätte, weiß ich nicht. Fühlen Sie sich also von Gleichem angezogen?
PERWER:
Es gibt auf der Welt Menschen in verschiedenster Gestalt geboren. In
Asien, Amerika, Afrika, die einen sind schwarz, Sie sind ein bißchen blond oder weiß, aber dafür sind wir alle nicht schuld. Kulturen, Sprachen sind so unterschiedlich wie die Menschengestaltung, und das soll auch so sein, aber nicht mit Unterdrückung und Ausbeutung. Z.Bsp. in Amerika leben Menschen aus verschiedensten Kulturen, Amerika ist eine Supermacht, aber eigentlich gehört es den Indianern.
intimacy-art: Das stimmt schon. Aber es gibt ja ganz schlimme rassistische Theorien. Charles Darwin sprach bei der Fortpflanzung von Struggling for the Best, und dass man sich zwecks Arterhaltung mit dem Gleichen zusammen tut. Jetzt wissen wir, es hat sich schon so viel vermischt, in der Zeitgeschichte, und das ist auch gut, da immer vielfältigere Mischungen herauskommen. Wozu tendieren Sie beide aber im intimen Bereich - ganz ehrlich und persönlich gesagt?
PERWER:
Sie sind Österreicherin, ich bin Kurde. Ich respektiere Sie als
Mensch. Das müssen wir zunächst akzeptieren. Und falls wir zusammen kommen, kann ich auch ein Österreicher werden. Aber ohne Unterdrückung. Wenn mein Gefühl aber stark und gut ist, so wie ich mich als Kurde fühle, muss ich Kurde bleiben. Es gibt viele Kurden, die in der Türkei zwangsassimiliert sind.
intimacy-art: Haben Sie eine kurdische Frau?
PERWER:
Hatte ich.

intimacy-art: Also nicht mehr.
PERWER:
Wir sind nicht mehr zusammen, aber noch in großer Freundschaft
verbunden.
intimacy-art:
Weil mich wirklich der Sprung interessiert, wo jemand ins
eigene Leben jemand ganz Fremden zuläßt oder ob er das Eigene sucht.
RESETARITS:
Ich kann das nicht generalisieren. Ich denke, dass es, Gott sei
dank so ist, dass es jeweils ganz unterschiedlich ausfällt. Ob man sich mehr zum Eigenen oder mehr zum Fremden bzw. zum Anderen hingezogen fühlt.
intimacy-art:
Aber Sie haben, glaube ich, eine schöne, große blonde Frau.
Sind Sie noch zusammen mit ihr?
RESETARITS:
Wir sind nicht mehr zusammen. Sie war aber keine
Burgenland-Kroatin. Das ist also nicht der Punkt.
PERWER:
Einander gut oder nicht zu verstehen, oder ob etwas hält, ist nicht
unbedingt von der Kultur oder Nation abhängig. Das wichtigste ist, den Menschen an sich zu respektieren, um zusammen oder nebeneinander leben zu können. Wenn man das akzeptiert, muß man sich nicht gegenseitig bekämpfen.

Name zwischen Identität, Fremdbestimmtheit und Markenbewußtsein

intimacy-art: Sie heißen normalerweise Ismail Aygün, warum haben Sie Ihren Namen geändert?
PERWER:
Mein Name war von Anfang an Sivan. Nur mein Nachname war nicht
Perwer, sondern Aygün. Das ist ein türkisches Wort, von Türken vergeben, denn die Kurden dürfen ihren eigenen Nachnamen nicht behalten. Der erste Name kann kurdisch, der Nachname muß arabisch sein.
intimacy-art:
Und Sie haben Ihren Namen von Ostbahn Kurti wieder auf Willi
Resetarits geändert. War das eine Identitäts- oder eine Markenfrage?
RESETARITS:
Der Ostbahn war als wunderbares Projekt vollendet. So konnte ich
wieder zu etwas Neuem schreiten. Ostbahn Kurti ist an sich aber ein Künstlername.
intimacy-art:
Genau. Und damit wurden Sie zur Marke. Nun wurden Sie zu einer
Neuen, doch möglicherweise für nur eine geringe Marktlücke. Denn mittlerweile gibt es schon viele Künstler, die mit dem integrativen Gedanken arbeiten: Das Schauspielhaus, die Worldmusic-an-sich, das Volkstheater, der Ali-G im Fernsehen. Wie schaffen Sie es, Ihre eigene Individualität gegenüber diesen anderen Marken zu verteidigen?
RESETARITS:
Also, i glaub net, dass i des verteidigen will und verteidige es
auch nicht. Ich glaube, dass man etwas schlecht verwaltet, wenn man es krampfhaft verteidigt. Sollte es nicht übrigbleiben, war es offenbar nicht stark genug. Und da ich mich in dieser Arbeit in positivem Sinne wirklich verliere, wird es sicherlich eigen sein und übrig bleiben.
PERWER:
Und spüren die Menschen, das ist richtig, stützt es auch wieder
unsere Persönlichkeit und Identität.
intimacy-art:
Das schaffen Sie nun, indem Sie Ihre beiden Musikstile
durchmischen, ...
RESETARITS:
Ja, aber sehr vorsichtig und mit Respekt. Es soll nichts
verändert und auch nichts verbessert werden, sondern wir machen einfach gemeinsam Musik. Und langsam verstehen wir uns besser, sodass wir schon mehr miteinander kommunizieren können: musikalisch. Denn grundsätzlich unterscheidet sich die kurdische Musik von der arabischen und der westlichen Musik. Die Skalen, die Vibrationen sind anders, man arbeitet mit Vierteltönen, die wir Westler weder haben, noch hören, wobei wir Angst haben, unsere Halbtöne mit diesen Vierteltönen zusammen zu bringen. Die größten Probleme gab es aber wegen Percussion und westlichem Schlagzeug, das für die kurdische Musik zu mächtig ist. Wir übernehmen daher jetzt den Rhythmus der kurdischen Kollegen, wenn wir in Liedstellen und -übergängen zusammen kommen.
intimacy-art:
Interessanterweise sind Sie inhaltlich erst recht von einander
verschieden. Sivan Perwer ist der Erzähler von narrativen Geschichten, sei es über Großgrundbesitzer, die sich duellieren, oder von Steppen-Lautmalereien mit Flöten, während Willi Resetarits persönliche, innere Monologe singt, wie etwa “"Wann de Musik vuabei is, steht ma ganz alla do". Wie verträgt sich das?
RESETARITS:
Ich denke, dass die Musikstücke für sich selbst sprechen und
auch die Texte. Es gibt bei uns beiden sehr schöne Liebeslieder, die in ihrer Art sehr verbreitet sind. Im Grunde sind auch Marienlieder vom Text her Liebeslieder. Die meisten Lieder sind daher Liebeslieder.
intimacy-art:
Bei Ihnen allein oder bei Ihnen beiden?

RESETARITS:
Überall, weltweit und bei uns beiden auch. Aber es gibt
natürlich auch konkrete Aussagen, und aufgrund Sivans Herkunft muß auch das Statement für die kurdische Identität kommen, weil es etwas zu erringen gilt. Ich selbst muß da nicht so kämpfen.
intimacy-art:
Sie singen etwa: “"Leben ist Arbeit und di bringt di um",
Zitate von Bruce Springsteen auf Sie selbst ganz persönlich umgemünzt. Das unterschiedliche Maß an Intimität, das man rausläßt, ist bei Ihnen also sehr verschieden: Würden Sie sagen, dass Willi Resetarits auf der Bühne sehr viel von sich preisgeben will, und Sivan Perwer die intime Zone eher für sich behalten will?
PERWER:
Bei mir ist das eher eine Frage der Strategie. - Manchmal
protestieren die Leute, also die politischen Organisationen, und wollen das musikalische Gefühl bzw. die Idee hinter einem Lied zerstören. Um es dennoch ausdrücken zu können, muß ich Umwege gehen. Ich spiele also daraufhin wieder eine Musik, die die Situation beruhigt. Und wenn die Menschen lachen und sehr glücklich sind, singe ich Tanzlieder, Liebeslieder, wobei ich aber von der Gleichberechtigung der Frau singe. Denn die Frauen sind zweifach bedroht, die Männer nur einfach. Manche Männer werden dann böse und beschweren sich, dass die Frauen ihnen jetzt auf den Kopf steigen. Damit sie sich wieder beruhigen, singe ich wieder etwas anderes ...
intimacy-art:
Wir Westler können dagegen alles raussingen. Willi Resetarits
hat sich sicher nie überlegt, etwas umschreiben zu müssen. Er kann so intim sein, wie nur möglich.
RESETARTIS:
Man kann zumindest genau sein. Aber ich will auf keinen Fall
autobiografisch sein. Es ist nur etwas scheinbar Autobiografisches, mit dem Zweck, Inhalte und Gefühle zu vermitteln, die alle betreffen. Wenn ich meine Privat-Befindlichkeiten in die Welt hinaus verbreite, ist das uninteressant.
intimacy-art:
Ist Ihre kurdische Musik eine Musikform, die auch zur
kurdischen Klassik zählt?
PERWER:
Ich habe verschiedene Motive. Ich bin mit kurdischer Musik
aufgewachsen, habe aber immer versucht, verschiedene Motive außerhalb davon zu integrieren. Hinsichtlich Gefühl, Ereignissen.
intimacy-art:
Es beinhaltet also Volksmusik und klassische Elemente, alles
zusammen.
PERWER:
Ja, und daneben gibt es noch die spezielle Musik von Sivan Perwer
als eigentliches Ziel. Sodaß jeder weiß, wenn ich ein neues Lied singe, dass es von mir komponiert wurde.
intimacy-art:
Und mit türkischer Musik hat das nichts zu tun?

PERWER:
Nomalerweise nicht, aber wenn man global denkt, gibt es von jedem
Volk etwas. Wir leben als Türken, Araber, Perser nebeneinander zusammen und leben auch von einander. Die Türken und Araber haben umgekehrt von unserer kurdischen Musik viel übernommen.
intimacy-art:
Ach so, die haben von Ihnen Dinge übernommen.

RESETARITS:
Das ist ein Austausch, der in allen Kulturen passiert.

intimacy-art:
Bei Willi Resetarits ist noch der "“Proletarier"-Einfluß
wichtig zu erwähnen. Wie kokettieren Sie denn damit, auch mit dem Akademikertum?
RESETARITS:
Mir ist dabei nur ganz wichtig, dass man stets im Bewußtsein hält, wo
man herkommt. Man sollte nicht irgendetwas anderes behaupten.
intimacy-art: Aber das mit den Titeln, der Dr. Ostbahn Kurti, und auch Ihre Musiker tragen noch die Titel, ...
RESETARITS:
... das ist ein Spiel ...

intimacy-art: ... aber auch eine Provokation.
RESETARITS:
Aber mit der Grundaussage, die eigene Herkunft nicht zu
verleugnen, egal, ob das jetzt eine Volksgruppe oder die soziale Schicht ist.
intimacy-art: Und dass Sie Prominente wie Barbara Rett und Michael Köhlmeier in Ihrem Projekt dabei haben - ist das eine Spekulation, mit einem Prominenten - wie auch Präsident Dr. Heinz Fischer innerhalb Ihrer PR-Arbeit - mehr Rückhalt und Aufmerksamkeit zu bekommen oder geht es da tatsächlich um die Personen als bewußte Teile des Kunstprodukts?
RESETARITS:
Also bei diesen beiden hängt es an den Personen, die ich sehr
schätze und die sich, sozusagen, auch sehr gern bereit erklären, uns zu helfen.
intimacy-art:
Also zwei Fliegen auf einen Klatsch.

RESETARITS:
Ein Doppelnutzen, ja.


Wie nahe sich zwei fremde Menschen kommen können


intimacy-art:
Wie nah sind Sie einander nun tatsächlich?

PERWER:
Wir verstehen uns meist sehr, sehr gut, und respektieren einander
sehr. Und an unserem Beispiel sieht man, dass das mit der Zeit immer besser geht. Also sehr, sehr langsam. Nach vier Jahren unserer Zusammennarbeit hat sich das gut entwickelt.
intimacy-art:
Man hört es auch auf der CD, dass das im Laufe des Konzerts
immer mehr zusammen wächst.
PERWER:
Und im neuen Konzert wird es noch besser gehen. Wir versuchen,
unsere Musik und Gruppen in eine neue Form einzubinden. Also nicht nur meine Band und seine Band. Wir schauen, welche Lieder sich in einander einfügen lassen, sodass sie für sich selbst perfekt werden. Welche unserer Instrumente Willis und meine Musik noch besser verbinden können. Darüber denken wir zuerst nach, und dann bringen wir noch ein neues Repertoire von alten und neuen Liedern ein.
intimacy-art:
Was heißt denn Ihr Titel “Naze, wo auch Willi Resetarits mit
einstimmt?
PERWER:
Das heißt “"Verwöhntes Mädchen", ist aber auch ein Name für sensible
Leute, sowie ein weiblicher Vorname. Und wenn sich eine Dame nicht erklären kann, sagt man, Du bist sehr nazig. Dann sagt man naze, nazenin, nazelie, nazlie, nazike, es gibt verschiedene Abwandlungen.
intimacy-art:
Das ist bei der Sprache also wie mit den Vierteltönen in der
Musik.
PERWER:
Ja, genau.

intimacy-art:
Da merkt man erst, wie exakt Sie sind, mit diesen vielen
feinen Unterscheidungen. Wahrscheinlich kommt das von der alten Perser-Kultur. Wie bei der alten asiatischen Kultur mit ihren vielen Zwischenebenen.
PERWER: Ja, die Kurden sind ja auch ein Volk des Nahen Ostens. Das würde ich aber nicht für uns alleine beanspruchen, sondern auch für die arabische, türkische, persische Kultur. Aber ich singe natürlich vom Kurdischen heraus solche Lieder, weshalb diese Lieder in Kurdistan sehr bekannt sind. Das sind Volkslieder, klassische Volkslieder aus hunderten von Jahren.


(Interview-Auszug vom 20.9.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)